„Rudimentäre Kapitalismuskritik, die die Fakten ausblendet“ Sprachforscherin Ruth Wodak/Wiener Zeitung

„Wiener Zeitung“: Jeden Samstag demonstrieren rund 40.000 Menschen gegen Corona-Maßnahmen und Impfpflicht, täglich lassen sich aber mehr als doppelt so viele gegen das Coronavirus impfen. Laut den Daten des E-Impfpasses haben 6.444.430 Personen zumindest eine Impfung erhalten und 6.076.249 Menschen und damit 68 Prozent der Österreicher verfügen über einen gültigen Impfschutz. „Die geimpfte Mehrheit darf nicht länger schweigen“, halten Sie mit Renée Schroeder, Hannes Werthner und Herbert Weltler in einer Aussendung fest, und in Wien ist kommenden Sonntag ein Lichtermeer der geimpften Mehrheit geplant. Eine Wende?
Ruth Wodak: Wir vier wollen ins Bewusstsein rufen, dass ein sachlicher Diskurs jetzt notwendig ist und nicht ausschließlich Provokationen die Schlagzeilen bestimmen dürfen. Provokationen sind ein bewährtes Mittel rechtspopulistischer Bewegungen, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Wir wollten darauf aufmerksam machen, dass ihnen nicht so viel Platz gebührt. Wir wollen nichts verharmlosen, keinesfalls. Aber man sollte ausgewogener berichten. Es ist auch ein Appell an die Politik, die Krisenkommunikation zu verbessern; es wurden sehr viele Fehler gemacht.

Zum Beispiel?
Wenn man an einem Tag sagt, wir machen keinen Lockdown, und am nächsten Tag sehr wohl einen verordnet, kann das niemand nachvollziehen. Es geht auch um Verständlichkeit, und welche Kriterien für Entscheidungen ausschlaggebend sind. Noch am 13. Oktober hatte der frühere Finanzminister behauptet, die Pandemie sei vorbei, und schon vor vielen Monaten wurde ein Bonus versprochen, den das Gesundheits- und Pflegepersonal bis jetzt nicht bekommen hat. Es wäre besser, zu sagen, dass man es nicht vorhersagen kann, die Bevölkerung aber am Laufenden hält, und dass verschiedene Faktoren für diverse Szenarien sprechen. Ein Wirrwarr an Regeln führt zu Politikverdrossenheit; nicht gehaltene Versprechen machen unglaubwürdig.

Politische Kommunikation ist schuld, dass immer noch ein Drittel der Bevölkerung ungeimpft ist?
Sicherlich nicht nur, das wäre eine zu simple Erklärung. Die FPÖ hat vor allem eine Nische gesucht, in der sie rein strategisch Erfolg haben kann. Viele Themen sind der FPÖ ja abhandengekommen: Österreich hat keine Flüchtlinge aus dem Lager in Moria aufgenommen, die Grenzen wurden im ersten Lockdown geschlossen. Die „neue“ Nische war also ein Aufruf zum Protest gegen „die da oben“: Maßnahmen, Regierung, Medien, Wissenschaft. Diese Strategie hat die FPÖ in den Meinungsumfragen wieder nach oben katapultiert und sogar eine neue Protestpartei, MfG, produziert. Es handelt sich um eine bewusste politische Instrumentalisierung der Menschen. Wenn man keine sinnvollen Perspektiven schafft, sondern Verwirrung erzeugt, kann man politikverdrossene Menschen für Anti-Haltungen gewinnen. Es ist eine Gemengelage von Rechten, Neo-Nazis, Identitäre, Enttäuschten, Esoterikern und Impfskeptikern.

Die jüngste Eurobarometer-Umfrage attestiert Österreich eine ausgeprägte Wissenschaftsfeindlichkeit. Wie ist diese zu erklären?
Die Wissenschaft ist hierzulande, vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg, nicht wirklich im Fokus des Interesses gewesen. Leider wurden in der Nazi-Zeit sehr viele exzellente Wissenschafterinnen und Wissenschafter vertrieben, beziehungsweise ermordet. Und nach 1945 wollte man ausgezeichnete Forscherinnen und Forscher auch nicht zurück. Erst langsam ist ein Wiederaufbau der Wissenschaft gelungen. Dabei gab es aber im Gegensatz zu anderen Ländern, wie der Schweiz oder Deutschland, nicht so große Investitionen – wir liegen im Verhältnis immer noch zurück in der Förderung von Exzellenzforschung. Verglichen etwa mit Skandinavien sind wir bei Forschungsausgaben proportional zur Bevölkerungszahl nicht vorne. Weiters gibt es ein kollektives Desinteresse, oft sogar abfällige Einstellungen zur Wissenschaft. Einiges haben wir uns auch selber zuzuschreiben. Lange äußerten sich nicht viele Forschende in der Öffentlichkeit, jetzt sind es endlich aufgrund der Covid-Krise mehr.

Wie ließe sich das ändern?
Diese Entwicklungen stehen stark im Gegensatz zum angelsächsischen Raum, wo Wissenschafter keine Vorbehalte haben, Wissen verständlich zu formulieren. In England etwa ist es wichtig, welche Resonanz Wissenschaft auch außerhalb der Wissenschaft hat. Das hat man lange Zeit bei uns verabsäumt, viele hierzulande sind sich dazu immer noch zu gut.

Man hat den Eindruck, dass die Gegner der Impfungen weniger auf die Gesellschaft als auf sich selbst bedacht sind. Geht Solidarität auch durch Social Media flöten?
Natürlich wird Propaganda leichter über Social Media als über traditionelle Medien vermittelt, aber ich würde diese Wertung nicht generalisieren. Propaganda benötigt Überzeugungsarbeit und Mobilisierung, aber nicht nur über Social Media. Momentan erleben wir eine strategische Instrumentalisierung von Enttäuschung, Wut, Angst und Politikverdrossenheit. Wir hatten ja bis vor kurzem eine Regierung, die sich vor allem an Meinungsumfragen orientiert und diese noch dazu manipuliert hat.

Es gibt ein Lager, das nicht auf die Straße geht, nicht rechts wählt und sich am ehesten unter gebildeten Menschen verorten lässt, die hinter der Impfung kapitalistische Geldmacherei vermuten und sich ermächtigt sehen, indem sie sich verweigern. Ganze Familien geraten über solche Haltungen in Streit. Wie lässt sich das Dilemma lösen?
Das ist ein ideologischer Konflikt. Auf der einen Seite begegnen wir einer sehr rudimentären Kapitalismuskritik, wonach Pharmafirmen an allem schuld sind und bloß reich werden wollen – alte Argumente. Zugleich handelt es sich um Verschwörungstheorien, wonach Wissenschafter als Marionetten von Pharma-Firmen agieren. Und das ist doch eine schlimme Unterstellung. Meines Erachtens werden dabei simple Narrative ideologisch aufgeputzt, die letztlich an althergebrachte antisemitische Weltverschwörungstheorien anknüpfen.

Wissenschaftlich erforschte Fakten sind keine Glaubensfrage. Schlittern wir in einen Religionskrieg ohne Religion?
Der Philosoph Karl Popper meinte einst recht polemisch, Religion sei letztlich eine Verschwörungstheorie – fest gefügte Glaubensgebäude, die für viele Phänomene gute Erklärungen bieten. Der Soziologe Zygmunt Baumann wiederum betonte, dass Krisen vor allem durch Unsicherheit charakterisiert sind und dadurch Angst hervorrufen: Man weiß nicht, was passiert, wann die Krise zu Ende geht und was man tun soll. Man kann sich an Verschwörungstheorien klammern, indem man sagt, es sei durch das Schicksal bestimmt, oder an simplistische, vorurteilsbehaftete Erklärungen.

Was bedeutet das für die Demos?
Die Parteien, die solche Unsicherheiten und Ängste instrumentalisieren, verkaufen es so, dass sie für die Freiheit und die Demokratie und gegen Zwang und Diktatur eintreten. Sie meinen: „Wir wollen selbst über unseren Körper bestimmen und uns impfen lassen oder nicht.“ Das hat mit einem Gefühl der Ermächtigung zu tun, die aber Fakten ausblendet. Allerdings handelt es sich um eine Minderheit.

Sehen Sie eine Spaltung der Gesellschaft?
Nein. Spaltung wäre fifty-fifty. Es ist aber eine große Mehrheit, die denkt: Wir lassen uns impfen, weil Gesundheit wichtig ist; es ist wichtig, bei den Fakten zu bleiben und darauf hinzuweisen, wer die Mehrheit ist. Ob all dies die Gesellschaft aber doch nachhaltig auseinandertreibt, muss sich weisen. Man muss sehr vorsichtig sein, denn es gibt eine ökonomische Krise und wenn die Arbeitslosigkeit weiter steigt, stehen Existenzen auf dem Spiel. Es wird viel Arbeit sein, das Vertrauen wieder aufzubauen; das alles geht nicht einfach wieder vorbei.

https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/wissen/mensch/2131325-Ermaechtigung-die-die-Fakten-ausblendet.html

Ruth Wodak, geboren 1950 in London, ist Sprachsoziologin, Diskursforscherin und emeritierte Professorin für angewandte Sprachwissenschaften der Uni Wien. apa / Journalistinnenkongress – © APA/OTS/Journalistinnenkongress